in der strassenbahnlinie #5, am frühen dienstag abend.
sie steigt an der johanneskirche ein und setzt sich auf den platz closest to me, auf der anderen seite des gangs.
[frisch ge-gymt wie ich bin tut sie mir ein wenig leid, wenn auch nicht so leid wie mir die leute tun, die am freitag mit ben & tony von reykjavik nach london fliegen werden.]
sie ist ende sechzig, geschmackvoll gekleidet, hübsche tasche.
sie zieht aus ebendieser tasche ihre lesebrille und einen brief.
schönes festes papier. schöne klare handschrift. blaue tinte. mit füllfederhalter geschrieben. mit zeit.
"ich hoffe ich bin ihnen mit jahrgang 1928 nicht zu alt." steht da. 'ich bin 'junggeblieben', wie man so sagt, dank 3 kindern und 9 enkelkindern."
"anbei ein photo, im letzten jahr aufgenommen am 50. geburtstag von sohn michael."
ein wenig weiter unten steht "aber genug von mir, dies sollte als erste reaktion auf ihre schöne anzeige genügen. ich würde mich über ein telefonat mit ihnen sehr freuen."
der brief strahlt offenheit und hoffnung aus. ein mann, 77 jahre alt, will sich verlieben.
ich bin gerührt. schrecklich gerührt.
ich schaue sie an, sie ist vertieft in diesen brief.
da ist keine reaktion in ihrem gesicht. keine die ich an ihr erkennen könnte zumindest, und ich wünschte da wäre eine, ein kleines lächeln, vielleicht [es müsste nicht so gross sein wie das meinige, das ununterdrückbar da ist, vor dem computer, am telefon.].
wie ist wohl ihre geschichte? was hat sie bewogen eine kontaktanzeige aufzugeben? in welcher zeitung? mit welchen worten? wonach sucht sie? jemanden wie ihn? was hat sie die hoffnung auf liebe, auf einen partner nicht aufgeben lassen?
als ich aussteige, am bertoldsbrunnen, 3 minuten strassenbahnfahrt in denen ich mehr über sie erfahren habe als sie von mir, da habe ich das dringende bedürfnis ihr 'viel liebe' zu wünschen.
ich tu es in gedanken.